Kompass für eine nachhaltige und wettbewerbsfähige EU: Europas Fahrplan für die Zukunft

Die Europäische Union steht an einem entscheidenden Wendepunkt: Angesichts globaler Herausforderungen, wachsender Konkurrenz aus den USA und China sowie ambitionierter Klima- und Technologievorgaben hat die Europäische Kommission Anfang 2025 mit dem „Kompass für Wettbewerbsfähigkeit" einen strategischen Rahmen vorgelegt, der Europas wirtschaftliche Leistungsfähigkeit und nachhaltigen Wohlstand sichern soll. Dieser Kompass übersetzt die Empfehlungen des viel beachteten Draghi-Berichts zur Zukunft der europäischen Wettbewerbsfähigkeit in konkrete Maßnahmen und gibt die Richtung für die Arbeit der Kommission in den kommenden fünf Jahren vor.
Europas Stärken – und der Handlungsbedarf
Europa verfügt über ein starkes Fundament: ein ausgeprägtes System von Rechten und Werten, erstklassige Infrastrukturen und eine hochqualifizierte Arbeitnehmerschaft. Dennoch räumt der Kompass offen ein, dass mehr geschehen muss, um in einer immer wettbewerbsintensiveren Welt Schritt zu halten. Die EU ist in den letzten zwei Jahrzehnten beim Produktivitätswachstum hinter andere große Volkswirtschaften zurückgefallen. Um diesen Trend umzukehren, müssen strukturelle Schwächen abgebaut und die Innovationskraft gestärkt werden.
Drei zentrale Aktionsbereiche des Kompasses
Der Kompass für Wettbewerbsfähigkeit definiert drei strategische Handlungsfelder, die Europas Zukunftsfähigkeit sichern sollen:
A. Innovation: Die Lücke schließen und Europas Erfindergeist stärken
Die EU will die Innovationslücke schließen, indem sie ein günstiges Umfeld für Start-ups und innovative Unternehmen schafft, den Technologietransfer fördert und die industrielle Führungsrolle Europas ausbaut. Zu den Initiativen gehören:
• Eine europäische Start-up- und Scale-up-Strategie, die Gründungs- und Wachstumshürden abbaut
• Strategien für Künstliche Intelligenz (KI), Quanten- und Biotechnologie, Robotik, Raumfahrt und fortschrittliche Werkstoffe
• Die Einführung eines „28. Rechtsregimes", das EU-weit einheitliche und vereinfachte Rahmenbedingungen für innovative Unternehmen schafft
• Förderung von Investitionen in Forschung, Entwicklung und Digitalisierung
B. Dekarbonisierung und Wettbewerbsfähigkeit: Nachhaltigkeit als Wachstumsmotor
Mit dem Clean Industrial Deal und einem Aktionsplan für bezahlbare Energie will die Kommission die Dekarbonisierung der Industrie mit wirtschaftlicher Wettbewerbsfähigkeit verbinden. Wichtige Maßnahmen sind:
• Ein Rechtsakt zur beschleunigten Dekarbonisierung, der Genehmigungsverfahren vereinfacht und Investitionen erleichtert
• Aktionspläne für energieintensive Branchen wie Stahl, Metalle und Chemie
• Förderung von Innovationen im Bereich sauberer Technologien und erneuerbarer Energien
• Sicherstellung, dass Europa zum Leitmarkt für klimaneutrale Produkte und Technologien wird
C. Sicherheit und Krisenfestigkeit: Unabhängigkeit und Resilienz stärken
Die EU will ihre Abhängigkeiten von externen Märkten reduzieren und ihre Krisenfestigkeit erhöhen. Dazu gehören:
• Neue Partnerschaften für sauberen Handel und Investitionen, um die Versorgung mit Rohstoffen, Energie und Technologien zu sichern
• Überarbeitung der Vorschriften für das öffentliche Beschaffungswesen mit einer europäischen Präferenz für kritische Sektoren
• Stärkung der europäischen Verteidigungsindustrie und der Versorgungssicherheit in Schlüsselbereichen
Fünf Querschnittsmaßnahmen für nachhaltigen Erfolg
Diese drei Kernbereiche werden durch fünf horizontale Maßnahmen flankiert, die als „Enabler" für nachhaltige Wettbewerbsfähigkeit dienen:
Vereinfachung: Drastischer Abbau regulatorischer und administrativer Hürden, insbesondere für kleine und mittlere Unternehmen. Die Kommission setzt auf ein „Regulierungssystem auf Basis von Vertrauen und Anreizen" statt detaillierter Kontrolle.
Stärkung des Binnenmarkts: Beseitigung von Handels- und Marktzugangshindernissen durch eine neue Binnenmarktstrategie.
Finanzierung: Gründung einer europäischen Spar- und Investitionsunion, um Zugang zu Kapital zu erleichtern und Investitionen zu fördern.
Kompetenzen und Arbeitsplätze: Aufbau einer „Union der Kompetenzen" mit gezielten Investitionen in Bildung, Weiterbildung und die Entwicklung hochwertiger Arbeitsplätze, unterstützt durch Programme wie Erasmus+ und InvestEU.
Koordination: Einführung eines neuen Instruments zur besseren Abstimmung von Politikmaßnahmen auf EU- und nationaler Ebene.
Zwischen Vision und Realität
Mit dem Kompass für Wettbewerbsfähigkeit setzt die Kommission ein klares Signal: Die wirtschaftliche Erneuerung Europas soll Hand in Hand mit der Transformation zu einer klimaneutralen, digitalen und resilienten Wirtschaft gehen. Bereits 2025 werden zentrale Initiativen wie der Clean Industrial Deal, der Industrial Decarbonisation Accelerator Act und eine neue EU-Start-up-Strategie auf den Weg gebracht. Die geplanten „Omnibus"-Pakete sollen die Vereinfachung und Entbürokratisierung in Bereichen wie Nachhaltigkeitsberichterstattung und Due Diligence vorantreiben.
Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen bringt es auf den Punkt: „Europa hat alles, was es braucht, um bei diesem Rennen zu gewinnen. Jetzt kommt es auf Geschwindigkeit und Einigkeit an. Die Welt wartet nicht auf uns."
Doch bei aller Euphorie der Kommissionschefin mehren sich kritische Stimmen aus Wissenschaft, Wirtschaft und Zivilgesellschaft. Katharina Reuter vom Bundesverband Nachhaltige Wirtschaft warnt: „Unter dem Deckmantel des Bürokratieabbaus entpuppt sich das Omnibus-Verfahren als massiver Rückschritt für Menschenrechte, Nachhaltigkeit und als Gift für die Modernisierung der europäischen Wirtschaft." Auch Umweltorganisationen wie der WWF kritisieren, der Kompass stelle Deregulierung über den Klimaschutz.
Aus wirtschaftswissenschaftlicher Sicht äußern sich Experten skeptisch zur praktischen Umsetzung. Das Wirtschaftsforschungsinstitut DIW betont, dass „Europa vor allem ein Mentalitätsproblem" habe – „Auflagen statt Aufbruch, Stillstand statt Risikofreude". Kritiker verweisen zudem darauf, dass bereits der Corona-Wiederaufbaufonds in Höhe von 800 Milliarden Euro – derselben Summe, die Draghi nun für seine Wettbewerbsinitiative fordert – nicht ordnungsgemäß umgesetzt wurde.
Universitäten und Forschungseinrichtungen zeigen sich besorgt über die Fokussierung auf kurzfristige wirtschaftliche Ziele. Emmanuelle Gardan von der Coimbra-Universitätsgruppe bemängelt: „Einige der wichtigsten EU-Ziele fehlen völlig in diesem Silo-Ansatz: Solidarität, sozialer Zusammenhalt, Gerechtigkeit, Inklusion." Die Rolle der Geisteswissenschaften und der Grundlagenforschung werde völlig ignoriert.
Strukturelle Herausforderungen
Das größte Problem sehen Experten jedoch in der strukturellen Umsetzung. Die Tagesschau kommentiert: „Die EU ist eben nicht China oder die USA, wo eine Regierung die Richtung vorgibt. Hier gibt es 27 Einzelstaaten, die alle eigene Interessen haben." Diese Fragmentierung führe zu nationalen Alleingängen, die eine gemeinsame europäische Strategie untergraben.
DATEV fasst die Erwartungen pragmatisch zusammen: „Der Draghi-Report beschränkt sich sehr auf die Problembeschreibung. Lösungsvorschläge werden zwar aufgezeigt, bleiben aber meist oberflächlich." Viele der vorgeschlagenen Handlungsfelder wie gemeinsame Verschuldung seien für einige Akteure „rote Linien" und daher unrealistisch.
Ausblick
Der Kompass für Wettbewerbsfähigkeit ist zweifellos ein notwendiger Schritt, um Europas Innovationsfähigkeit, Nachhaltigkeit und Souveränität zu sichern. Er bietet eine klare Vision – ob er jedoch mehr wird als ein ambitioniertes Dokument, entscheidet sich an der konsequenten Umsetzung, der Koordination innerhalb der Mitgliedstaaten und am Mut zu echten Strukturreformen.
Die kritischen Stimmen zeigen deutlich: Europa braucht nicht nur neue Strategien, sondern vor allem eine neue Mentalität und den politischen Willen, schwierige Reformen tatsächlich durchzusetzen. Unternehmen und Gesellschaften sind gleichermaßen gefordert, diesen Wandel aktiv mitzugestalten. Nur so bleibt Europa auch in Zukunft ein starker, nachhaltiger und wettbewerbsfähiger Wirtschaftsraum.
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